Was ist Geschlecht?

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Disclaimer: Die Seite ist ein Teil eines dreiteiligen Input-Moduls, das im "Informatik & Geschlecht"-online-Kurs 2009 verwendet wurde. Ursprünglich von Johnny erstellt, ist es hier freigegeben zum Ergänzen und Erweitern. Einige der Inhalte sind auch Johnnys Bachelorarbeit entnommen <ref>Diese kann hier eingesehen werden: http://diebin.at/~johnny/2009/iug-thesis.html (2010-03-07)</ref>. Die Seite hier ist also noch in Entwicklung. Gleich hier am Kopf der Seite finden sich auch noch Punkte, wo noch Leute vor haben sie zu erledigen.

Koautor*innen:

ToDos:

  • Bilder bei den Unterkapiteln einfügen
  • Zitate und Referenzen farblich kennzeichnen
  • Substantiellere Quellenangaben einarbeiten
  • Querverweise auf die Materialsammlung setzen.
  • Reflexionspunkte adaptieren , Hinweis darauf auch in der Einleitung

In diesem Modul betrachten wir Begriffe wie "Geschlecht" und "Gender", sowie deren Definition. Der Fokus liegt eingangs im Kapitel 2 auf unterschiedlichen Definitionen und Definitionsmerkmalen von Geschlecht. Danach machen wir uns in Kapitel 3 das begriffliche Feld zwischen Gender und Geschlecht ansatzweise bewusst. Nachdem wir unseren Fokus auf Geschlecht als Kategorie legen, betrachten wir in Kapitel 4 unterschiedliche Geschlechterkonzeptionen.

Dieses Modul soll einen groben ersten Einblick in die Geschlechterforschung geben. Dieser kann bei einer Analyse der Informatik auf Geschlechterfragen hin sehr hilfreich sein. Um das ganze Modul durchzuarbeiten benötigt mensch circa zwischen 1 und 2 Stunden (wobei dem Wissensdurst nach oben hin an sich ja keine Grenzen gesetzt sind).

Hinweis zu den Reflexionspunkten:

  • Auf einigen Seiten wirst du explizit auf "Reflexionspunkte" stoßen und aufgefordert, eine Antwort über die Kommentarfunktion zu geben. Generell kannst du aber auf jeder Seite deine Kommentare, oder Fragen zum Thema loswerden. Oder du weißt von weiteren spannenden Informationsquellen zum Thema, dann schreib dies ebenfalls als Kommentar dazu.
  • Antworten auf Reflexionspunkte sind nicht verpflichtend, und es soll auch nicht darum gehen, lange und elaboriert ausgearbeitete Antworten zu finden. Viel mehr sind sie eine Möglichkeit zur Selbstaktivierung und bieten dir die Möglichkeit den Kurs aktiv mitzugestalten. Du kannst allerdings auch die Kursforen in diesem ILIAS-Kurs oder aber das zentrale Kurswiki verwenden, um über diese Inhalte zu kommunizieren.

Geschlecht ist Definitionssache

Geschlecht als Naturkonstante?

Täglich sehen wir um uns herum "Frauen" und "Männer". Es scheint uns zumeist ganz intuitiv klar zu sein, welche Menschen als "Frauen" und welche als "Männer" bezeichnet werden. So gibt es also zwei Sorten von Menschen. An manchen Orten sehen wir mehr von der einen, an manchen mehr von der anderen Sorte.

Was aber sind nun "Frauen" und "Männer"? Zuerst mal sind es zwei Wörter, die verwendet werden um Menschen in zwei Klassen zu kategorisieren. Damit diese Kategorisierung nicht willkürlich geschieht und somit zwecklos wäre, werden Definitionen geschaffen. Dahinter stehen jeweils bestimmte Motivationen. Allen gleich ist die These, dass die Kategorien notwendig sind - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Durch wissenschaftliche Untersuchungen wird immer wieder versucht, genaue Trennschnitte für die Kategorisierung zu finden. Immer wieder wird dabei auch auf eine Objektivität hingewiesen, die sich aus der wissenschaftlichen Erklärung einer scheinbar konstanten Natur ergibt.

Dabei ergeben sich für eine Geschlechterforschung auch bereits verschiedene Schnittpunkte zu anderen Themenbereichen. So gibt es wissenschaftstheoretisch fundierte Kritik an dem Objektivitätsanspruch verschiedener Wissenschaften bzw. verschiedener wissenschaftlicher Gruppen - nachdem ja auch innerhalb eines Faches oft durchaus verschiedene Ansichten vertreten werden. Zum anderen gehen aus historischen Untersuchungen auch Erkenntnisse darüber hervor, wie Geschlecht zu verschiedenen Zeiten gedacht wurde, und wie sich diese Vorstellung verändert. In der Medizin finden sich schließlich Definitionen und Methoden bezüglich der Einordnung des Geschlechts, die unser Leben doch auch entscheidend beeinflussen können.

Dass sich diese Definitionen aber immer wieder ändern, werden die nächsten Seiten zeigen. So werden wir sehen, dass auch Natur konstruiert werden kann. Ebenso werden wir sehen, dass die hegemoniale Einordnung in genau zwei Geschlechter kein natürliches Faktum, sondern eine gewollte, und oft auch unterdrückende Festlegung ist.

Material:

  • Wikipedia-Eintrag zu Geschlecht - Der Eintrag ist im wesentlichen eine Übersichtsseite zu den unterschiedlichen Prägungen des Begriffs und zeigt bereits recht gut wie kompliziert das Thema und wie nicht-trivial die Festlegung eines Geschlechts ist.
  • Die Queeropedia - hier finden sich teils recht differenzierte Definitionsmöglichkeiten zu Begriffen rund um das Thema Geschlecht. Das Projekt befindet sich scheinbar noch im Aufbau.

Definitionen in Medizin und Biowissenschaften

Werfen wir nun also einen Blick auf Medizin und Biowissenschaften sowie darauf, wie diese Geschlecht definieren zu versuchen. Dabei gibt es einerseits eine historische Perspektive, also den Blick darauf wie die biowissenschaftlichen Definitionen von Geschlecht immer wieder verändert wurden, und andererseits die Perspektive auf aktuelle Diskurse, zum Beispiel in der Hirnforschung. Wir werden das hier nur kurz anreißen, und du hast dann die Möglichkeit selbst ein bisschen auf die Suche zu gehen. Als Hauptquelle - wenn nicht anders ausgewiesen - verwenden wir dafür Margarete Maurers Arbeit zu "Sexualdimorphismus, Geschlechtskonstruktion und Hirnforschung" (Maurer 2002) <ref>Maurer Margarete (2002): Sexualdimorphismus, Geschlechtskonstruktion und Hirnforschung. In: Pasero Ursula, Gottburgsen Anja (Hg.): Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002. pp 64-108.</ref>.

Folgende Gesichtspunkte werden bei der biowissenschaftlichen Feststellung des Geschlechts in Augenschein genommen:

  1. chromosomal: es wird nach Art des Chromosomensatzes entschieden (Stichwort: XX, XXX, XY, XYY)
  2. gonadal: es wird nach Art der Keimdrüsen unterschieden
  3. morphologisch oder phänotypisch bzw. genital: es wird nach Art der Geschlechtsorgane unterschieden
  4. hormonell: eine Unterscheidung wird aufgrund spezifischer Hormonhaushalte vorgenommen
  5. verhaltensbiologisch: aufgrund gewisser Verhaltensweisen, die nur bestimmten Geschlechtern zugesprochen werden, wird eine Unterscheidung in jene vorgenommen
  6. gehirnanatomisch und -physiologisch: nach Form, Struktur oder Funktionsweise des Gehirns wird eine Zuordnung zu bestimmten Geschlechtern vorgenommen

Die jeweils einzelnen Kriterien, die hier angeführt werden unterliegen einem zeitlichen Wandel. Je nach neuen Forschungsergebnissen, werden die Kriterien angepasst. Immer wieder kommt es auch bei Untersuchungen von Personen vor, dass die bisherige Definition eines bestimmten Kriteriums nicht vollständig zu sein scheint. Das ist meist dann der Fall, wenn die untersuchten Personen zwar von der Untersuchenden Person einem der beiden Geschlechter "weiblich" oder "männlich" zugeordnet werden, dabei aber ein bestimmtes Kriterium gegenteiliges oder zumindest nicht gleiches zeigt. Also zum Beispiel, wenn eine Person als "Frau" eingeordnet wird, ihr Chromosomensatz jedoch nicht dem einer "Frau" entspricht. In diesem Fall werden die Kriterien, oder die Gesamtmatrix der Definition für das Geschlecht "Frau" angepasst - oder aber diese Person nicht mehr als "Frau" klassifiziert, was meist eine Zwangsanpassung an das andere Geschlecht, den "Mann", zur Folge hat.

Zentral an alledem ist, dass bereits vor der Untersuchung eine Voranname steht: Es gibt genau zwei Geschlechter, und zwar "weiblich" und "männlich". Vor diesem Hintergrund wird klarerweise versucht, eine Matrix (oder sagen wir eine Form bzw. ein Raster) zu finden, mit welcher die oben genannten Kriterien immer zu einer solchen binären Einteilung führen - Sexualdimorphismus bezeichnet diese Zwangszuordnung. Wie wir gesehen haben, steht vor neuen Untersuchungen bereits eine Annahme, die dann auch entsprechend oft verteidigt wird, und die Interpretation des Untersuchungsergebnis bedeutend beeinflusst. Auf der folgenden Seite sehen wir kurz anhand von Beispielen aus der Hirnforschung, dass auch bestimmte Interessen hinter dieser Forschungspraxis bestehen.

Material:

Reflexionspunkt:

  • Versuche für eines der genannten Kriterien ein Beispiel zu geben. Anhand von was genau wird hierbei entschieden? Wenn du anstatt dessen andere Unterscheidungsmerkmale findest, kannst du auch ein solches anführen. Suchen kannst du überall, falls du dir aber nicht sicher bist wo, helfen dir womöglich die Materialien weiter, die auf den Seiten dieses Kapitels angeführt sind. Deine Antwort kannst du über die öffentliche Kommentarfunktion am Ende dieser Seite kundtun.

Gehirnforschung früher

Die Gehirnforschung erfuhr insbesondere um die Jahrtausendwende einen Boom. Insbesondere die von der US-amerikanischen Regierung ausgerufene Decade of the Brain bedeutete Forschungsförderungen in Milliardenhöhe für die Neurowissenschaften. So sind die Grundmotive der naturwissenschaftlichen Erforschung des Gehirns laut Florey einerseits das "philosophisch-spekulative Motiv, das sich aus dem Wunsch ergibt, das Verhältnis von Geist und Körper zu begreifen" und andererseits "der medizinische Bedarf bei ÄrztInnen und MedizinerInnen" (zit. nach Maurer 2002, p.65).

Aber bevor wir zur aktuellen Situation kommen, wollen wir kurz in das 19. Jahrhundert blicken, während dem der Gehirnforschung ebenfalls ein besonderer Status zukam, was auch bedeutende historische Auswirkungen hatte:

"Mit sorgfältig ausgearbeiteten wissenschaftlichen Werken wie z.B. dem Hauptwerk Huschkes (1798-1858), 'Schädel, Hirn und Seele des Menschen und der Thiere nach Alter, Geschlecht, Race, dargestellt nach neuen Methoden und Untersuchungen' von 1854 wurde eine hirnbiologische Geschlechter- und Rassenanthropologie begründet, die bestehende soziale Ungleichheiten legitimieren half. So war die Erforschung des menschlichen Gehirns im 19. Jahrhundert (und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein) bei vielen Forschenden eng verknüpft weniger mit dem Wunsch, neurologische Gemeinsamkeiten unter den Menschen herauszuarbeiten, sondern wurde auf die Suche nach Unterschieden ausgerichtet, nämlich nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern und nach Unterschieden zwischen verschiedenen Ethnien ("Rassen"). Müssen also die "Grundmotive" Floreys um Querschnitts-Perspektiven erweitert werden, welche diese durchfließen oder fundieren, nämlich: um Motive der Ab- und Ausgrenzung, welche bewusst oder unbewusst Forschungsfragestellungen, Hypothesen und Ergebnisse färbten und menschenverachtender politischer Verwendung den Boden bereiteten?" (Maurer 2002, p.67)

Viele der damaligen Erkenntnisse sind heute bereits widerlegt, nichtsdestotrotz wurden sie zu jener Zeit in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung und unter einem Anspruch der Objektivität hervorgebracht. Generell "verbergen sich hinter diesen Debatten über die Bedeutung [geschlechtlicher] Körper und den Umgang mit ihnen Kämpfe über die Bedeutung von Objektivität und der zeitlosen Beschaffenheit wissenschaftlichen Wissens."(Fausto-Sterling 2002, p.27) <ref>Anne Fausto-Sterling (2002): Sich mit Dualismen duellieren. In: Pasero Ursula, Gottburgsen Anja (Hg.): Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002. pp. 17-64</ref>.

Material:

Gehirnforschung heute

Wie erwähnt besteht momentan wieder verstärktes Interesse, vor allem in den Neurowissenschaften, geschlechtsspezifische Muster des Gehirns zu lokalisieren - und damit auch neue Kriterien zur Kategorisierung der Geschlechter aufzustellen, bzw. bestehende Kriterien anzupassen. Dabei treten jedoch immer wieder Inkonsistenzen und Widersprüchlichkeiten auf. So ist eine zentrale Erkenntnis der letzten Dekaden in der Gehirnforschung jene über die "Plastizität" des Gehirns. Diese zeigt - kurz zusammengefasst - dass sich das Gehirn und dessen Struktur im Laufe eines Lebens immer wieder ändert, und dass die biologische und materielle Basis von unseren Erlebnissen und Erfahrungen beeinflusst wird. Dies steht nun aber im Widerspruch zur Behauptung, es gäbe gewisse starre Strukturen im Gehirn die geschlechtsspezifisch und unveränderbar sind.

ToDo: Grafik einfügen - Visualisierung so genannter bzw. vermuteter männlicher und weiblicher Bereiche im Gehirn.

Nun möchte ich dieses Kapitel aber mit einem Zitat und einer weiteren kleinen Aufgabe schließen.

"Die Suche nach einer neurobiologischen Verankerung und "Erklärung" geschlechtsspezifischen Verhaltens (sofern es dieses gibt) könnte auf einem immer neu wiederholten grandiosen Zirkelschluss beruhen: es wird gefunden, was schon vorausgesetzt wurde." (Maurer 2002, p.97)

Reflexionspunkt:

  • Versuche eine konkrete Aussage im Kontext der Gehirnforschung zu finden, die in Zusammenhang mit Geschlechterdefinitionen steht. Diese kannst du wieder über die Kommentarfunktion mitteilen. Oder aber versuche selbst ein Argument für die Widersprüchlichkeit der Definition von Geschlecht über Gehirnforschung zu finden. Als Materialen stehen dir unter anderem die in diesem Kapitel angegbenen Quellen zur Verfügung. Du kannst dir aber auch selbst mögliche Konstruktionen durchdenken.

Gender und Geschlecht

Begriffsgeschichten

Wir haben bisher gesehen, wie Geschlecht im biowissenschaftlichen Kontext definiert werden kann. Dabei war stets die Rede von einem biologischen Geschlecht.

Nun gibt es auch so etwas wie ein soziales Geschlecht, welches - aus dem englischen Sprachgebrauch kommend - mit Gender bezeichnet wird. Die Bezeichnung wurde insbesondere im sozialwissenschaftlichen Kontext geprägt und hat sich als sehr hilfreicher Analysebegriff erwiesen. Im Gegensatz zu "gender" wird im Englischen das oben erwähnte biologische Geschlecht mit "sex" bezeichnet. Für einen deutschen Sprachgebrauch etablierte sich die Unterscheidung in Gender und Geschlecht.

Die Grenze zwischen diesen beiden Begriffen, und auch die Frage ob es so eine Grenze überhaupt gibt, ist nicht unumstritten. Sie spiegelt in manchen Diskursen eine angenommene Grenze zwischen Natur und Kultur wieder. Wenn wir an die Plastizität des Gehirns zurückdenken wird die Grenze zumindest zwischen natürlich und künstlich bereits wieder brüchig. In anderen Diskursen meint Gender auch eine Grenze zwischen biologisch/physisch auf der einen und nicht-biologisch/psychisch auf der anderen Seite mit.

Tendentiell wird dem Begriff Gender mehr Wandelbarkeit zugeschrieben als dem des Geschlechts. Und manches mal wird der Begriff Gender wieder synonym für Geschlecht verwendet. Vor allem durch das - im Mainstream angekommene - Gender Mainstreaming werden oft einfach Wendungen wie "Männer einerseits und Frauen andererseits" durch den Begriff "Gender" ersetzt. (GenderManifest 2006, p.2) <ref>GenderManifest. 2006. Auf: http://www.gender-mainstreaming.org (2010-03-07)</ref>

Gender bezeichnet demgegenüber jedoch noch viel mehr. Im Verlauf des Kurses werden wir auch noch öfter mit Gender in Berührung kommen, vor allem wenn es um spezifische Verhaltensweisen verschiedener Gruppen geht (zumeist dann doch wieder "Frauen" und "Männer"). Hier befassen wir uns aber zunächst weiter nur mit dem Begriff Geschlecht, und sehen auch anhand von diesem bereits, dass Geschlecht viel mehr meint, als oft angenommen wird. Für Gender gilt letztlich ähnliches. Freilich können die Begriffe für sich - wie eingangs erwähnt - sinnvolle Analyseinstrumente darstellen.

Machen wir uns nun auf in das nächste Kapitel und die Welt der vielfältigen Geschlechterkonstruktionen.

Material:

Geschlechterkonzeptionen

Vielfalt der Geschlechter

Neben den klassischen Geschlechterkonzeptionen von "Mann" und "Frau", die uns oft intuitiv erfassbar scheinen, gibt es immer wieder Fälle, in welchen Personen sich nicht in eine dieser beiden Geschlechter einordnen lassen wollen. Und ebenso gibt es immer wieder Fälle, in welchen selbst beim Versuch jene Personen doch einzuordnen - also unter Zwang - keine klare Einordnung möglich ist.

Dabei kommt dies nicht nur in Einzelfällen vor, sondern kann auch in gesellschaftlich gehäuften und akzeptierten Phänomenen vorkommen. Nachfolgend werden wir einige Beispiele betrachten die Susanne Schröter (2002) <ref>Susanne Schröter (2002): FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern. Frankfurt a. Main. Fischer</ref> aufzeigt. Darüber hinaus gibt es allerdings unzählige weitere Beispiele, und vor allem auch moderne Technologie ermöglicht und bewirkt eine weitere Verwischung der bisher starr geglaubten Grenzen. Auch hier wird die Grenze zwischen Natur und Kultur brüchig. In Bezug auf Technologie und das ambivalente Erleben von Geschlecht stellt uns Donna Haraway (1991) <ref>Donna Haraway (1991): A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century. In: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature. New York. Routledge. pp.149-181. (auch im Netz verfügbar: CyborgManifesto)</ref> mit der Cyborg-Metapher eine weitere Möglichkeit zur Verfügung, Geschlecht als gemacht und veränderbar zu betrachten.

Nachfolgend sehen wir uns auf den folgenden Seiten drei Beispiele genauer an (es handelt sich dabei jeweils um eine kurze Zusammenfassung gleich betitelter Kapitel in Schröter (2002)):

  • "Geschworene Jungfrauen" auf dem Balkan
  • Travestis in Brasilien
  • Hermaphroditen und die medizinische Konstruktion von Geschlecht

"Geschworene Jungfrauen" auf dem Balkan

Das Konzept der "Geschworenen Jungfrau" findet sich vor allem in Albanien, Mazedonien, Montenegro und Kosovo. Richtigerweise sollten wir fortan von der tobelija sprechen, da dies die gängige lokale Bezeichnung für die bezeichneten Personen ist. Tobelija bedeutet übersetzt so viel wie "die, die einen Schwur abgelegt hat". Dies deshalb, da die Tobelija als Frau einen Schwur ablegt, Jungfrau zu bleiben, und daraufhin eine klassisch männliche Geschlechtsidentität annimmt. Dabei werden üblicherweise keine bewussten biologischen oder körperlichen Veränderungen angestrebt. Die Gründe für diese Entscheidung sind unterschiedlich. Einerseits wird in der patrilinearen Gesellschaftsorganisation eine Familie ohne männliche Nachkommen schutzlos gemacht und sozial schlechtergestellt, weshalb die Tobelija diese Funktion dann übernehmen kann - eine sozialstrukturelle Erklärung also. Andererseits gibt es Susanne Schröter zufolge zumindest zwei andere Kontexte, die sich durch empirische Daten belegen lassen: "Dazu gehört die Option für junge Frauen, sich einer ungewollten Heirat zu entziehen und eine persönliche Neigung zur männlichen Geschlechtsrolle."(Schröter 2002, p.131)

Wie Susanne Schröter beschreibt führen Tobelijas ein durch und durch männlich konnotiertes Leben:

[Sie] besitzen einen männlichen Namen, tragen männliche Kleidung, einen männlichen Haarschnitt, rauchen und trinken. Sie führen ausschließlich männliche Tätigkeiten wie pflügen, Holz hacken oder Heu machen aus, tragen Waffen und nehmen an Jagden und kriegerischen Handlungen teil. Ihre Verhaltensweisen entsprechen dem albanischen Männlichkeitsstreotyp, und man findet sogar ausgesprochene Mysogynisten. Auftreten und Erscheinung sind oft so überzeugend, dass Reisende erst, nachdem sie darauf hingewiesen wurden, davon erfuhren, dass sich unter dem männlichen Gewand ein weiblicher Körper befand. (ibid, p.129)

Tobelijas werden gesellschaftlich akzeptiert, wobei die Bedingung dafür ein völliger Übergang hin zu einem männlichen Geschlechtsstereotyp ist. Entsprechend werden auch heterosexuelle Liebesbezüge von Tobelijas zu Männern stark sanktioniert, im Gegensatz zu lesbischen, zumal die Tobelija gesellschaftlich gesehen als Mann verstanden wird.

Travestis in Brasilien

Eine andere Geschlechtskonstruktion sind die brasilianischen Travestis. Im Unteschied zur Tobelija findet für sie auch eine körperliche Transformation von männlich zu weiblich statt, und diese ist zentraler Bestandteil ihrer geschlechtlichen Konzeption, obgleich keine vollständige physische Umwandlung in einem heteronormativen Sinn stattfindet.

[Travestis] wurden als Männer geboren und besitzen ausnahmslos intakte männliche Geschlechtsorgane. Penis und Skrotum sind allerdings die einzigen optischen Hinweise auf eine maskuline Physiologie. Der Rest des Körpers ist vollkommen feminin. Travestis nehmen hohe Dosen weiblicher Hormone ein und injizieren sich mehrere Liter Silikon in Hüften, Schenkel, Gesäß und Brüste. Sie legen Wert auf eine vollkommene weibliche Erscheinung und betonen, dem brasilianischen Schönheitsideal entsprechend, vor allem die Rundungen unterhalb des Nabels. Make-up, hohe Schuhe, figurbetonte Kleidung, eine weibliche Frisur, Gestik und Mimik vervollständigen den Eindruck perfekter Feminität. (Schröter 2002, pp.135)

Dabei zeigt die Existenz der Travestis die Möglichkeiten zur Überschreitung von klassischen Geschlechtergrenzen und zur Konstruktion tendentiell beliebiger Geschlechter an. Sie selbst beharren dagegen jedoch "auf einer dualen Geschlechterkonzeption, die allein ihrem Leben als möglichst genaue Kopie von Weiblichkeit einen Sinn gibt."(ibid, p.146) In ihrem "antiemanzipativen Konservativismus" würde das "Zugeständnis, dass Geschlecht vielschichtig ist, dass Weiblichkeit auch mit flachen Schuhen und ungeschminktem Gesicht dargestellt werden kann [...] ihre Möglichkeiten von Identifikation existentiell bedrohen." (ibid, pp.145)

Hermaphroditen und die medizinische Konstruktion von Geschlecht

Um uns das Konzept der Hermaphroditen zu besehen steigen wir in folgende Passage von Susanne Schröters FeMale ein:

Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein erfolgte die Feststellung des biologischen Geschlechts einer Person ausschließlich bei seiner Geburt, und im Falle von Uneindeutigkeit setzte man ein Geschlecht ein, das bis zum Erwachsenenalter Gültigkeit besaß. War die betreffende Person herangewachsen, stellte man ihr frei, die bei der Taufe getroffene Entscheidung anzunehmen oder abzulehnen. Diese Wahl war nicht reversibel, und die nun einer persönlichen Neigung entstammende Entscheidung definierte sex und gender dauerhaft. Dieser Diskurs um die Möglichkeit, Geschlecht frei zu wählen, verlor im achtzehnten und mehr noch im neunzehnten Jahrhundert entscheidend an Gewicht. Die aufstrebende Medizin erkannte die darin inhärenten sozialen Beliebigkeiten nicht an und strebte stattdessen nach einer im Sexus verborgenen Wahrheit, die endültige Klarheit darüber verschaffen sollte, was einen Mann und eine Frau "faktisch" voneinander unterschied. (Schröter 2002, pp.74-75)

Die daraufhin aufgestellten und immer wieder geänderten Kriterien, anhand welcher Geschlechter getrennt wurden, haben nicht selten zu fatalen Einschnitten in das Leben Betroffener geführt - und manches mal auch zu deren frühzeitigem Ende. So zum Beispiel der Fall der berühmtesten Hermaphroditin Herculine Barbin. Ein anderer Fall war der einer jungen Französin, die bis zu einer Operation im Jahre 1909 "ein unzweifelhaftes Leben als Frau geführt [hatte]. Sie besaß einen perfekten weiblichen Körper, arbeitete als Modell und war mit einem Mann verlobt. Die bevorstehende Heirat war der Anlass der von ihr angestrebten Operation."(ibid, p.75) Sie wollte sich Tumore in ihren labia majora entfernen lassen. Daraufhin wurde sie behördlich als Mann erfasst, und ihre Beziehung mit ihrem Verlobten galt ab da als homosexuelle Beziehung, die auch einer Ehe widersprach.

Solche Beispiele gibt es noch zuhauf, und sie treten heute in unserem Umfeld womöglich auch nicht mehr in dieser Art auf. Die medizinischen Kriterien, die wir in Kapitel 2 bereits betrachtet haben, veränderten sich seither auch immer wieder, und die Methoden verfeinern sich. Auch die Feststellung eines Geschlechts bei der Geburt wird routinierter ausgeführt. Und doch treten immer wieder Uneindeutigkeiten auf, die auch mal übersehen werden. Die Frage stellt sich nun, ob diese Uneindeutigkeiten, oder viel eher deren gesellschaftliche Nichtakzeptanz zu erheblichen Schwierigkeiten führt, und so manch einer/*/m auch zum fatalen Verhängnis wird.

Material:

Abschluss

Wir haben nun einen Bogen vom Begriff Geschlecht und dessen Definition über die Begriffsgeschichte hin bis zu konkreten Beispielen von Grenzverwischungen der Geschlechter gespannt. Zurückblickend können wir auch nochmal den Verweis auf Donna Haraways Metapher der Cyborg in Betracht ziehen, als ein Konzept das Natur/Kultur- und Geschlechterdichotomien auflöst und die Cyborg als eigenes Geschlecht, oder viel eher Anti-Geschlecht setzt - die damit aber nicht jeglicher Geschlechtlichkeit beraubt ist. Hier können wir auch wieder an die Eingangsfrage des Kurses anknüpfen und die Verbindung zur Informatik und ihrer Technologie untersuchen.

Im Anschluss an dieses Modul kannst du auch gleich mit dem Folgemodul Geschlechterforschung in der Informatik weitermachen. Du kannst hier aber auch jederzeit wieder zurückkommen und in den Texten und Materialien stöbern, und weitere Anmerkungen machen. Eine für die Kursorganisation hilfreiche Anmerkung an dieser Stelle wäre, wenn du kommentierst wie lange du ungefähr für die Bearbeitung dieses Moduls benötigt hast.

Referenzen

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