Systemtheorie XOR GenderTrouble?

From Informatik & Geschlecht 2010
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George Spencer Brown und Luhmann

  • Luhmann zitiert exzessiv die "Proto"-Logik von George Spencer Brown, einen Mathematiker, Schriftsteller, Songwriter, Schachmeister,...
  • Lange Zeit dachte man, Luhmann habe diesen Herren und seine Logik erfunden, weil man dessen Buch "Laws of Form" (1971) in den Bibliotheken nirgends finden konnte. Grund: Sein Nachname (Spencer Brown) ohne Bindestrich geschrieben wurde unter Brown kategorisiert, der sehr oft vorkommt.
  • Luhmann ist kein Mathematiker oder Logiker und nimmt eigentlich nur die Grundzüge der "Laws of Form" und den "Re-Entry" auf, die Luhmann für die Zwecke der soziologischen Systemtheorie verwendet.

Anstatt großartig über die Grundzüge der Systemtheorie zu reden, werde ich das, was Luhmann von Spencer Brown verwendet, kurz darstellen. Das ist prinzipiell der Begriff der Unterscheidung, indem zwei Seiten unterschieden werden, jedoch nur eine bezeichnet wird. Und dann noch kurz beschreiben, was der Re-Entry mit dieser Markierung macht.

  • Es werden nicht zwei Objekte vorausgesetzt, sondern nur der Akt der Unterscheidung. Die Unterscheidung konstitutiert die Objekte.
  • Damit kann man auf eine unabhängige externe unerkennbare Welt verzichten, um Erkenntnis erklären zu können.
  • Alles, was man erkennen kann, hängt von den Kategorien ab, die, um es zu erkennen, benutzt werden.
  • Von der Unterscheidung hängt es ab, was gesehen werden kann. Weitere Unterscheidungen können nur im Rahmen und unter Bezugnahme auf die "erste" Unterscheidung getroffen werden. Dafür ist Selbstreferenz nötig.

Luhmann verwendet Spencer Browns Kalkül für seine Systemtheorie, indem er Unterscheidung mit dem Terminus Beobachtung zusammenbringt.

Luhmann über Frauenforschung (1985)

Hier steht dann, wie Luhmann sich (auch polemisch) auf die Frauenforschung dieser Zeit bezieht und welche theoretischen Probleme er sieht. Wird weggelassen, da Esposito große Teile von Luhmanns Thesen ohnehin vorstellt.

Die Rezeption davon bei Esposito (1992)

Man dürfte innerhalb der Geschlechter- und Frauenforschung diesen Text wenig rezipiert haben, so schreibt E.Esposito (EE) 7 Jahre später - 1992. Im Folgenden werde ich seinen Artikel "Frauen, Männer und das Ausgeschlossene Dritte" ein bisschen durcharbeiten.

"Luhmanns Position [...] ist folgende: Die feministische Theorie braucht - besonders heute - eine Reflexionsweise, die in der Lage ist, von den Zwecken der feministischen Bewegung Abstand zu nehmen - obwohl es auf einer anderen Ebene Konsens mit diesen Zwecken geben kann, und Luhmann selbst behauptet das. Wird jedoch die Zustimmung zu den erklärten Zielen als Ausgangspunkt genommen, spaltet sich die Debatte sofort in Befürworter und Gegner, und deren Stellungnahme beeinflusst alles, was danach gesagt wird. Es wird dann lediglich um den möglichen Beitrag zu den Zielen der Frauenbewegung und nicht um die Reflexion der Frage gehen. Diese Reflexion ist nur dann möglich, wenn man darauf verzichtet, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, und statt dessen die Art und Weise reflektiert, wie Frauenforschung sich auf die Welt "einstellt" (*), und welche Voraussetzungen, Inkompatibilitäten und Folgen das hat: Wenn die Forschung einen gewissen Weg verfolgt, was kann sie erfassen, und was schließt sie aus? Welcher Preis muss bezahlt werden angesichts welcher möglichen Gewinne?" (EE@FMG, S.63f)
(*) "Mit den Worten Gotthard Günthers, wenn man einen "rejection value" einfügt [...]. Selbstverständlich kann man jedoch immer für und gegen bestimmte Zwecke Stellung nehmen und die Ergebnisse der theoretischen Analyse dafür verwenden. Man stellt sich aber auf eine andere Ebene, die von de[r] theoretischen Ebene getrennt werden muß."

Dies ist für Forschung generell wichtig. Was man klassisch mit der Unterscheidung zwischen Sachurteil und Werturteil bezeichnet, kommt bei Luhmann in einem Theoretischen Rahmen, der mit der Differenztheorie G.Spencer Browns und der Beobachtungstheorie (Kybernetik zweiter Ordnung, geprägt von Heinz v. Foerster) verwandt ist. Diese Theorien "erlauben es insbesondere, den naheligenden Einwand zu erwidern, daß Neutralität des Beobachters unmöglich ist und daß daher die offenkundige oder latente Zustimmung zu bestimmten Zwecken immer vorausgesetzt werden muß."

Das war auch etwas, was wir schon ein paar Mal angesprochen haben. Die Beobachterposition ist nicht neutral, sie kann es nur vorgeben und arbeitet implizit ja doch wieder mit Werturteilen, arbeitet ihren Zwecken zu. Was aber, erwidert Luhmann EE's Meinung nach diesem Argument, das für mich ja doch einigermaßen schlüssig ist? (In der Einleitung wird das nurmal behauptet. Kleiner Hinweis: Der Versuch, Werturteile explizit zu machen, gelingt nicht, weil strukturell etwas zugrundeliegt, das nicht explizit ist... aber das kommt im Verlauf des Beitrags noch)

Selbstreferentialität in der Frauenforschung der 70er-Jahre

EE paraphrasiert Positionen von Irigaray und Kristeva, um die Selbstreferentialität der "poststrukturalistischen Frauenforschung" der 70er-Jahre herauszuheben:

  • S.65 - die Frau als Restkategorie, mit deren Hilfe sich die Kategorie Mann überhaupt konstituieren kann; um sich auf sich selbst beziehen zu können, braucht sie einen Gegansatz: Die Frau ist Irrationalität, Beliebigkeit, oder: "das Andere". "Was das Weibliche 'wirklich' ist, wird aus dieser Sicht nicht erfaßt werden können. Die herrschende 'Ökonomie der Darstellung' erlaubt es nicht." (S.66)
  • Der Punkt, auf den EE hier zuarbeitet ist, einen Anschluss zwischen Systemtheorie und der damaligen poststrukturalistischen Frauenforschung zu finden.
  • Irigaray (1974) schreibt explizit, dass die Rolle der Frau ein "blinder Fleck in einem alten Traum von Symmetrie" sei. Die Metapher des blinden Flecks aber kann man in der Kybernetik 2. Ordnung finden, wo sie benutzt wird, um eine "spezifische Blindheit" zu beschreiben. Man ist an einer ganz bestimmten Stelle blind. (Erinnerung: Der Ausdruck selbst stammt aus der Neurophysiologie, dort bezeichnet er jene Stelle, wo die Nervenfasern im Auge austreten)
  • Perspektivenwechsel: Wie verhält es sich dann bei der Frauenforschung, wenn die Frau durch die Frau beobachtet wird? "Wie verortet sich das 'andere' der Selbstreferenz des Männlichen selbst?" Hier kommt es zu einer Selbstreferenz, die für EE einen Sondefall der Selbstreferenz der Systemtheorie darstellt, in der ein Beobachter Beobachter beobachtet. In der Frauenforschung, so müsste man es zuspitzen, damit der Vergleich stimmt, hat der Beobachter (sic?) das Selbstverständnis einer Frau und beobachtet Frauen. (klingt irgendwie strange, jedenfalls missverständlich)

Exkurs: Perspektivenwechsel? Symmetrie?

Hier sollte man Fragen, ob man in den 70er-Jahren tatsächlich ein solches Verständnis von Frauenforschung hatte (wie sieht es heute aus?) und ob Personen, die Frauenforschung betreiben, sich selbst die Kategorie "Frau" zuweisen. Aber bleiben wir beim allgemeinen Term von Beobachtung, so wie ihn die Systemtheorie verwendet (auch Klimaanlagen beobachten, da beobachten heißt: eine Unterscheidung treffen und eine Seite der Unterscheidung zu bezeichnen).

  • EE fragt nun: Wenn die männliche Perspektive einen blinden Fleck hat, dann hat auch die weibliche Perspektive einen. Für EE offenbar ein symmetrischer Fall. "Denn warum sollte die weibliche Perspektive weniger eingeschränkt sein als die entgegengesetzte männliche Perspektive"?
  • Ist der Perspektivenwechsel hier legitim? Gerade im Poststrukturalismus ist "das Andere"/die Alterität nicht ein "alter ego", nicht etwas wie ich - nur da drüben, mit dem ich mich in analoger Weise auskennen würde. Der Zugang der Systemtheorie ist anders: Sie sagt: "Jede Perspektive ist beschränkt und ich sage das selbst aus einer beschränkten Perspektive, das ist mir klar. Doch wenn ich was sage, muss ich es ja aus dieser beschränkten Perspektive sagen. " Aus der Beobachtung von anderen Beobachtern lernt der Beobachter auch etwas über sich. Sie muss - wie jede Perspektive, von nicht weiter hinterfragten Realitäten ausgehen (Die zentrale These zum Beispiel ist: "Es gibt Systeme"). Interessant ist, dass sich einige Systemtheoretiker darüber im klaren sind, dass dieses "Es gibt" nur innerhalb der Systemtheorie, also relativ zu einer Perspektive, Bedeutung hat und keine absolute Wahrheit beansprucht - jedoch versucht sie, univeral zu sein, d.h. alle Phänomene unter der Annahme, dass es Systeme gibt, zu verarbeitne. Das muss man hier glaube ich verstehen, um den Eindruck abzuschwächen, dass die Systemtheorie überheblich vorgeht, wenn sie die meint, einfach die Perspektive wechseln zu können. Sie beobachtet die Frauenforschung aus der Perspektive der Systemtheorie und findet Ähnlichkeiten, Anschlussmöglichkeiten und Diskrepanzen, wobei EE anzeigen möchte, dass das Problem der Selbstreferenz von der Systemtheorie schon recht gut behandelt wurde und dass sie für den theoretischen Unterbau der Frauenforschung hilfreich sein könnte. EE beansprucht hier denke ich nicht, die Perspektive der Frau oder des mannes zu kennen, sondern er spricht von strukturellen Problemen jeder Perspektive, wenn man - wie die poststrukturalistische Frauenforschung der 70er es nach EE tut - Frau und Mann als 2-Seiten-Form ansetzt.

Gut gehen wir weiter auf den Text ein:

Die Schwierigkeit des Perspektivenwechsels

  • Das, was ich oben zu erklären versucht habe, wird hier konkret für die Frauenforschung thematisiert. Wir haben in unserer Gesellschaft eine eingefahrene Unterscheidung Mann/Frau, wo die Seite des Mannes bezeichnet wird un die Seite der Frau nur das "Andere" ist wie bereits beschrieben. Mit der Reproduktion dieser Unterscheidung passiert folgendes (S.67):
  • Dem Mann kommt die dominantere, ordnende Rolle zu
  • "Es ist nicht leicht für den, der sich als "anderes" definiert, eine autonome Identität zu gewinnen, und ees ist auch nicht leicht, sich selbst in bezug auf das maßgebende "Selbst" zu lokalisieren. Was ist die Rolle des Mannes in einer weiblichen Perspektive? Wie kann man den "anderen des anderen" behandeln, ohne dadurch mit doppelter Negation zu dem Selbst zurückzukehren, von dem man ausgegangen war und das dadurch [AKA: erst wieder] bestätigt wird? Und vor allem: Wie kann das "andere" sich selbst behandeln und eine nicht untergordnete Identität gewinnen?
  • Ein Dilemma:
    • "Wird eine eigene von der männlichen Perspektive unabhängige Identität definiert, gibt es keinen Grund zu behaupten, daß diese Perspektive weniger begrenzt ist als die männliche."
    • "Wird aber diese Identität in bezug auf die männliche Identität definiert - indem die Vorteile der Stellung als "anderer" benutzt werden[...] -, wird noch einmal ihre untergeordnete Rolle bestätigt."
    • Die Selbstreferenz hat einen in diese Lage gebracht, es ist eine "typische Lähmung, die bei paradoxalen Perspektiven entsteht". EE weiter: Da die Frauenforschung laut Luhmann nicht über "raffinierte theoretische Mittel" verfügt, um die Selbstreferenz zum Ausgangspunkt zu nehmen, klaffen theoretische Reflexion und konkrete Praxis auseinander. Man redet über die "Relativität der Perspektiven" auf der einen Seite, und "will sich [auf der anderen Seite] durch Zugeständnisse eines Systems [Quotenfrage] emanzipieren, dessen Grundprinzipien diese Emanzipation ausschließen, wobei zugleich die systemimmanente Definition als "schwach" und hilfsbedürftig akzeptiert wird." (S.68)
  • Die Frauenforschung weiß um ihre Lage und möchte, dass das Weibliche eben nicht bloß der Spiegel des anderen Geschlechts ist. Es kann aber auch nicht um ein Umdrehen der Hierarchie gehen. Kristeva's Vorschlag ("zerologischer" Bereich - Ebene der "Heteronomie") wurde nicht ausgearbeitet. EE möchte mit seinem Aufsatz ein "Angebot möglicher neuer Sichtweisen auf die Frauenforschung" geben.

Oszillieren oder Ontologisieren

  • Wir haben weiter oben vom blinden Fleck gesprochen und dass jede Perspektive unvermeidlich so einen blinden Fleck hat, das folgt zumindest aus der Differenztheorie u.d. Systemtheorie. Der blinde Fleck ist jene Unterscheidung, die man aktuell benutzt.
  • Wenn man versucht, seinen eigenen blinden Fleck zu erkennen, kommt man in eine tautologische Lage. Man muss beschreiben, was man gerade beschreibt. Ist das Kriterium für Schönheit selbst schön? Sind die Kriterien für Wahrheit selbst wahr?
    • das führt zu "einem unproduktive[n] Oszillieren zwischen Objekt und Beobachter".
    • Will man das vermeiden, muss man sich auf "unabhängige Kriterien" beziehen, "auf eine Wahrheit oder eine Schönheit jenseits jeglicher historischer oder sozialier Lokalisierung. Das aber ist mit einem konstruktivistischen Ansatz nicht kompatibel". Daher ist es ein unabhängiges Kriterium nur aus der jeweiligen Perspektive.

Das ist im übrigen der Punkt, auf den ich oben herumgeritten bin (Legitimität des Perspektivenwechsels). Mit dem Kalkül von Spencer-Brown "lässt sich eine zirkuläre Position operativ machen. Und das [...] Die Unterscheidungstheorie scheint in vielerlei Hinsicht den Bedürfnissen der Theorie über das Weibliche entgegenzukommen":

  • Man kann mit ihr einsehen, dass die männliche Perspektive blind für das Ausgeschlossene ist.
  • Der Ausschluss bedeutet aber nicht: Von der Welt ausgeschlossen, sondern nur aus dieser Perspektive.
  • Das Weibliche kann immer noch das Selbst einer anderen Perspektive sein.
  • "Die Behauptung, daß das "Selbst" zugleich das "andere" (das "Nicht-Selbst") ist, ist dann kein Widerspruch, wenn die Perspektive, für die das "Selbst" selbst ist, von derjenigen getrennt ist, für die das "Selbst" das andere ist, wenn also beide autonom sind und keine "letzte Perspektive vorausgesetzt wird, die vorgibt was positiv und was negativ ist. [... Der Beobachter] kann also keine Perspektive - nicht einmal die eigene - als "die korrekte" Position annehmen."

Kosten beim "Einbau" dieser Theorie

  • organisatorisch: Man braucht in Bewegung eine Art von Ideologie, um zu Handlungen und Engagement zu motivieren. Jedoch erfordert die Unterscheidungstheorie "Abstand von Moral und höheres Abstraktionsniveau als das, was in Teilen der Frauenforschung üblich war und ist."(S.73)
  • Jetzt kommt er zu einem praktischen Problem, dass einerseits Unterscheidungen nicht symmetrisch sein können, sondern notwendig asymmetrisch sind und dass der Verlauf der Unterscheidungen, wo die Seite Mann bezeichnet und die Seite Frau ausgeschlossen wurde, eine lange Geschichte hat:
"Der entscheidende Punkt - vor allem, wenn es um Diskriminierung und strukturellen Ausschluss geht - ist, wie die Asymmetrie gestellt und verwaltet wird und ob sie von Anfang an eine der seiten begünstigt, z.B. Männer gegebenüber Frauen. [...] Der Mann ist in der traditionellen Auffassung der Vertreter der Ordnung und der Rationalität, die Frau sein negatives Korrelat. Eine hierarchhische Konstruktion erlaubt - oder besser: sieht vor -, daß die "untere" Seite ebenfalls gewählt werden kann, zum Beispiel mit dem Argument, daß Frauen in Wirklichkeit genau so inntelligent und leistungsfähig wie Männer sind (wenn nicht noch mehr), sensibler und weniger egozentrisch. Das führt aber nicht zu einer Umkehrung der Hierarchie. Die Hierarchie bleibt plausibel, solange der Zweifel darüber, welche Seite die allgemeine Ordnung vertritt, nicht denkbar ist. In diesem Fall reproduziert auch die Wahl der Gegenseite deren untergeordnete Stellung. Das Umkippen der Präferenz reproduziert die Hierarchie. Man kann sie nur dann überwinden, wenn diee Vorstellung an Plausibilität verliert, daß eine Ordnung durch einen ihrer Teile vertreten werden kann, wenn also eine hierarchische Konstruktion allgemein nicht mehr plausibel ist.[... Die Hierarchie]sieht wie ein unbezweifelbarer "natürlicher" Zustand aus, der eigentlich nicht beobachtet werden kann. Man bleibt dann auf jeden Fall in einer Logik gefangen, die die herrschende Seite favorisiert.[...]Die Emanzipation von der männlichen Logik gibt es dieser Einstellung zufolge nur dann, wenn es gelingt, die hierarchische Logik, die Logik der asymmetrisierenden Unterscheidungen, ganz zu verlassen und dabei trotzdem Operativität zu garantieren: wenn es also gelingt, die Unterscheidung Mann/Frau operationsfähig zu machen, ohne die Hierarchie zu reproduzieren."(S.74f)

Eva Mayer - Zählen und Erzählen. Für eine Semiologgie des Weiblichen (1983)

EE erwähnt Mayer, da sie mit Bezug auf Gotthard Günther den Begriff der Heterarchie ausbaut, der die Form der Hierarchie verwirft. Heterarchie "bezeichnet [..] eine Konstruktion auf mehreren Ebenen, wobei die Richtung von oben nach unten nicht eindeutig ist: Was von einem Blickpunkt aus gesehen oben ist, kann von einem anderen Blickpunkt aus als unten erscheinen und beide Perspektiven koexistieren. Die ordnende Leistung besteht also nicht darin festzustellen, was oben und was unten liegt, sondern darin, verschiedene Hierarchien so zu kombinieren, daß jede funktionieren kann. Was unterschieden wird, sind nicht beide Seiten einer Unterscheidung, sondern verschiedene Unterscheidungen.[...]Die Emanzipation vom Männlichen besteht im Grunde in der Emanzipation vom Repräsentationsanspruch: Das Weibliche - kein Spiegel der männlichen Sicht auf die Welt mehr - braucht nicht dem Männlichen gegebenüber seine alternative Repräsentation durchzusetzen. Die Frage der Herrschaft wird irrelevant." (S.76f)

Gleichheit XOR Geschlechterdifferenz?

  • Wie erhält man die Spezifizität der Unterscheidung Mann/Frau aufrecht, "wenn die Gegenüberstellung beider Seiten überwunden wird", was heißen müsste, dass "die Unterscheidung zwischen Mann und Frau für die behandelten Fragen letzlich irrelevant ist? Daß beide Geschlechter gleich behandelt werden müssen, heißt auch, daß diesbezüglich die Unterschiede zwischen ihnen nicht zählen - und dasselbe gilt für alle Arten von Diskriminierung. Es geht also um die Ideologie der Gleichheit und nicht um die Frage der Geschlechterdifferenz."
  • Damit man die Spezifizität der Unterscheidung aufrecht erhält: "Es wäre ein Begriff vom Weiblichen nötig, der nicht mehr von der Gegenüberstellung der männlichen Position abhängig ist" und der nicht bezogen ist auf einen biologischen oder anthropologischen Uneterschied der Geschlechter. Ohne dem, was EE das Spezifisch Weibliche nennt bleibt unklar, "wie und warum der Gleichheitsanspruch aus den Eigenschaften der Geschlechterunterscheidung hergeleitet wird." Und wenn etwas unklar bleibt und trotzdem praktiziert wird, muss das heißen, dass dies a priori oder ideologisch gesetzt wird.

EE schließt mit der Beobachtung einer "bemerkenswerte Rigidität", wenn es um die Teilnahme von Männern an der Frauenforschung ging. (S.78) Das reproduziert seiner Ansicht nach genau den Unterschied zwischen Männer und Frauen.

"Aus dieser Sicht war die hierarchische Konstruktion zugunsten des Mannes viel flexibler. Sie war stark genug, um auch die Umkehrung der Asymmetrie unbeschadet zu überstehen. Sie ließ die Behauptung der Intelligenz und Rationalität der Frauen zu, ohne daß die Rationalität ihre männlichen Eigenschaften verlor. Die weibliche Rationalität bräuchte eine ähnlich flexible Fähigkeit, die Möglichkeit zuzulassen, daß auch der Mann Beobachtungen zweiter Ordnung vollziehen kann - und sei es mit der Bemerkung, daß er in diesen Fällen einer weiblichen Logik folgt oder diese sogar bestätigt. Damit das gelingen kann, müßte man allerdings zuerst erklären, warum und wie diese Beobachtungen zur Logik der Frauen gehören."

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gleichheit und Geschlechterdifferenz sehe ich berechtigt. Was EE vorschlägt zu suchen, ist ein Set von Bestimmungen (das nicht einfach komplimentär zu einem Set von Bestimmungen ist, das typisch männlich ist), das es ermöglicht, dass Personen sich zeitweilig diesem Set zuordnen. Dann sind wir nicht mehr weit entfernt davon, dass sich nicht nur zwei sondern eine Vielzahl solcher Sets ergeben, wie es z.B. unterschiedliche Charaktertypen gibt (melancholiker, choleriker, phlegmatiker, sanguiniker), was auch noch zu prüfen wäre.


Weitere Anschlüsse von Systemtheorie an Geschlechterforschung oder umgekehrt

Dirk Baecker (DB@FMG): Männer und Frauen im Netzwerk der Hierarchie

Kurz vorstellen:

  • Was ist der "glass ceiling effect"?
  • Re-Formulierung des Effekts in netzwerktheoretische Terminologie
  • Was ist "ambiguity failures"?
"Jede Interaktion innerhalb einer Organisation vermag die Tatsache, daß die Interaktionsteilnehmer in der Organisation hierarchisierte Positionen einnehmen, nach Bedarf zu neutralisieren oder zu betonen. Beide Möglichkeiten sind kopräsent, und damit ist die Interaktion innerhalb der Organisation prinzipiell bistabil. Die Neutralisierung des Geschlechts, die man sich und einer weitgehend asexuierten Gesellschaft schuldet, ebenso wie die Neutralisierung der Hierarchie, die man einer kollegial verfaßten Organisation schuldet, nehmen niemals absolute Formen an, sondern reichen exakt so weit, wie sie keine Schmerzschwellen überschreiten, jenseits deren der Verzicht auf die Attribution der geschlechtlichen Identität und der hierarchischen Position unzumutbar wird." (DB@FMG, S.138)
"Die hier vertretene These lautet demnach: Der "glass ceiling effect" ist das Ergebnis von "ambiguity failures". Man bewältigt eine Karriere, ohne die Tatsache zu akzentuieren, also folgenreich werden zu lassen, daß man eine Frau ist - und im letzten Moment akzentuiert man, also frau, genau dieses. Man ist eine Frau, und niemand kann darüber hinwegsehen. Frauen jedoch ziehen in unserer Gesellschaft andere Identitätszuschreibungen auf sich als die mit einem Spitzenanspruch hierarchischer Führung verbundenen. Die Frau widerspricht ganz eindeutig, obwohl niemand weiß warum(*), den mehrdeutigen Erwartungen an die Spitze einer Hierarchie. Positiv formuliert: Den Glashimmel durchbricht, wem es gelingt, bestimmte Identitätszuschreibungen und die damit einhergehenden Rollenzuschreibungen zu vermeiden und darin die Mehrdeutigkeit an den Tag zu legen, die als Führungsqualifikation ausgelegt werden kann." (DB@FMG, S.139f)
(*) "Goffmaan (1977, S.326ff) vermutet, daß die Gesellschaft in genau der Hinsicht sexistisch ist, daß sie in dem Moment, in dem sie auf eine weibliche Identität zurechnet, diese Identität mit Verwundbarkeit konnotiert. Nur deswegen "helfen" Männern Frauen; Die Hilfe ist die zivilisierte Form der Bedrohung mit physischer Gewalt; wer hilft, stellt seine Stärke unter Beweis; die Frau bedankt sich."

Und dann wirds spannend, denn jetzt geht Baecker auf die Meta-Ebene und reflektiert das, was er bis jetzt geschrieben hat. Er hat ein empirisch belegtes Phänomen, den glas ceiling-Effekt, so zerlegt, dass man ihn soziologisch so formulieren kann, dass diese Formulierung eine Erklärung des Phänomens ist. Also eine Kreisbewegung. "Der Zirkel ist doppelt unbefriedigend. Wo er sich schließt, bedient er sich selbst, nämlich die Möglichkeit der soziologischen Argumentation. Wo er sich öffnet, kann er nicht argumentativ abgeleitet werden, sondern verweist auf Umstände die man nach Belieben biologisch ("Die Frau muß für Redproduktionszwecke abkömmlich sein") oder kulturgenetisch ("letztlich dominiert der Mann") oder sonstwie begründen kann."

Trotzdem meint er, dass diese Vorgehensweise sinnvoll war, weil die Soziologie Einsicht in gesellschaftliche Strukturen bekommt und andererseits bekommt die Gesellschaft Einsicht in ein "Nichtwissen". Jetzt kommt er zu einem Punkt, den wir auch kurz schon einmal angerissen haben, nämlich ob Theorie nicht darüber hinausgehen soll, nur über die aktuellen Strukturen zu schreiben, sondern z.B. darüber wie es sein soll. DB spricht nicht moralisch oder normativ (in der Systemtheorie tut man das im übrigen nicht ^^), sondern spricht davon, ob solche Strukturen, wenn man sie einmal kennt und aufzeigt, nicht unwirksam werden:

"Unklar ist, welche Funktion diese Struktur [AKA: der Gesellschaft, so wie sie in einem Teilaspekt oben beschrieben wurde] erfüllt und ob die Struktur sich auch unter der Bedingung ihrer Offenlegung noch bewähren, also ihre Funktion erfüllen kann." (DB@FMG, S.141)

Und finally:

"Wird es dabei bleiben, daß jeder Frau zumindest in letzter Instanz ein Mann vorgeordnet sein muß, sobald dieses Müssen einmal bekannt ist? Wird die Gesellschaft nicht alles tun, um diese mangelnde Kontingenz in Kontingenz und damit in gesellschhaftliche Entscheidbarkeit umzusetzen? Denn immerhin wird hier ja, wenn die These stimmt, eine eindeutige Identitätszuschreibung auf die Frau vorgenommen, die in allen anderen gesellschaftlichen Situationen zugunsten ambivalenter Interpretationsspielräume vermieden wird. Unsere Tautologie [AKA: er spricht hier von seiner soziologischen Argumentation, die das Phänomen zerlegt um es durch seine Teile zu erklären, was schon ziemlich tautologisch wirkt] hätte dann den Zweck, auf eine Unterbrechung der Tautoologie aufmerksam zu machen, die sich zwar als "Theorie" darstellen mag, als diese Theorie jedoch auuf eine mangelnde Schließung der Gesellschaft und damit auf eine Abhängigkeit von externen Gegebenheiten hinweist. Die Struktur, die wir hier aufdecken, erweist sich als eine Natur der Gesellschaft, von der man sich fragen kann, welche Gründe es geben mag, sie zu akzeptieren."

Am Ende kommt noch eine Bemerkung dazu, die wir vermutlich diskutieren werden müssen, nämlich, dass DB's These/Diagnose nicht nur sagt, dass Männer den Frauen keine Spitzenposition zugestehen ("darauf könnte frau im Rahmen der üblichen Machtspiele und des Rekrutierens von Durchsetzungsmacht durchaus erfolgreich vorgehen"), sondern auch, dass Frauen "sich im entscheidenden Moment nicht vorstellen können, Spitzenpositionen zu besetzen und sich im Rahmen eines 'ambiguity failure' selbst zu Fall bringen. Im Poker um die Spitzenpositionen der Gesellschaft machen sie den Fehler, die Frauenkarte auszuspielen, und wissen nicht, daß diese gezinkt ist." (DB@FMG S.142)

Wie seht ihr das?

Unterstreichungen und Einfärbungen von AKA.

Verwendete Literatur

  • FMG - Pasero, Weinbach (Hrsg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt: Suhrkamp, 2003
  • PRO - Hellmann (Hrsg.): Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp, 1997
  • to be continued...